Tausend Menschen höre ich reden und sehe ich handeln, und es fällt mir nicht ein, nach dem Warum? zu fragen. Sie selbst wissen es nicht, dunkle Neigungen leiten sie, der Augenblick bestimmt ihre Handlungen. Sie bleiben für immer unmündig und ihr Schicksal ein Spiel des Zufalls. Sie fühlen sich wie von unsichtbaren Kräften geleitet und gezogenm sie folgen ihnen im Gefühl ihrer Schwäche wohin es sie auch führt, zum Glücke, das sie dann nur halb genießen, zum Unglücke, das sie dann doppelt fühlen. Eine soch sklavische Hingebung in die Launen des Tyrannen Schicksal, ist nun freilich eines freien, denkenden Menschen höchst unwürdig. Ein freier, denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, so bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Bessern. Er fühlt, dass man sich über das Schicksal erheben könne, ja dass es im richtigen Sinne selbst möglich sei, das Schicksal zu leiten. Er bestimmt nach seiner Vernunft, welches Flück für ihn das höchste sei, er entwirft sich seinen Lebensplan, und strebt seinem Ziele nach sicher aufgestellten Grundsätzen mit allen seinen Kräften entgegen. So lange ein Mensch noch nicht im Stande ist, sich selbst einen Lebensplan zu bilden, so lange ist und bleibt er unmündig, er stehe nun als Kind unter der Vormundschaft seiner Eltern oder als Mann unter der Vormundschaft des Schicksals. Die erste Handlung der Selbstständigkeit eines Menschen ist der Entwurf eines solchen Lebensplans.
Ein Reisender, der das Ziel seiner Reise, und den Weg zu seinem Ziele kennt, hat einen Reiseplan. Was der Reiseplan dem Reisenden ist, das ist der Lebensplan dem Menschen. Ohne Reiseplan sich auf die Reise begeben, heißt erwarten, dass der Zufall uns an das Ziel führe, das wir selbst nicht kenen. Ohne Lebensplan leben, heißt vom Zufall erwarten, ob er uns glücklich machen werde. Ja, es ist mir so unbegreiflich, wie ein Mensch ohne Lebensplan leben kann, und ich fühle, an der Sicherheit, mit welcher ich die Gegenwart benutze, an der Ruhe, mit welcher ich in die Zukunft blicke, so innig, welch einunschätzbares Glück mir mein Lebensplan gewährt, und der Zustand, ohne Lebensplan, ohne feste Bestimmung, immer schwankend zwischen unsichern Wünschen, immer im Widerspruch mit meinen Pflichten, ein Spiel des Zufalls, eine Puppe am Drahte des Schicksals – dieser unwürdige Zustand scheint mir so verächtlich, und würde mich so unglücklich machen, dass mir der Tod bei weitem wünschenswerter wäre.
Heinrich von Kleist
Steile Thesen! Ich beschäftige mich seit 2 Wochen intensiver mit Kleist. Der Gute hat schon manch schlauen Gedanken gehabt und auch manch geile Story aufgeschrieben – Kurzgeschichten waren ja voll sein Ding. Letzendlich war ihm aber das Leben so verdrießlich das er sich in noch realtiv jungen Jahren, nicht weit von meinem aktuellen Wohnsitz, das Leben nahm. Wo war da sein Lebensplan, frage ich hier zynisch.
Gehen wir auf ein paar einzelne Punkte seines Textes ein! Die Frage nach dem WARUM! Nach Chubuck hat ja jede Figur / jeder Mensch ein übergeordnetes Gesamtziel, das sich irgendwo zwischen Liebe, Macht und Wachstum einordnen lässt. Der Antrieb. Kleist selber verlangt nun also diesen Antrieb bewusst zu wählen und quasi sein Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Er beschreibt in einer mir gefallenden Phrase, dass er „die Gegenwart benutze“ mit großer Sicherheit und ruhig in die Zukunft blicke. Ausgerichtet auf Glück, was auch immer darunter verstanden sein mag. Für ihn ist ein Lebensplan unabdenkbar.
Zu einem gewissen Teil stößt der Text hier bei mir auf. Träume ich doch vom ziellosen, schicksalsbestimmten Reisen; war doch letztes Jahr das Vertrauen auf das Trampolin des Lebens mein Motto und ja auch der Glaube an das Gute, das Vertrauen auf das Leben und das Behütetsein sind Glaubensgrundsätze meiner Selbst.
Aber zum anderen glaube ich auch an: Wo ein Wille, da ein Weg. Nur ohne Wille läuft man nicht los. Ich glaube an die Kraft der Träume, an die Kraft der Visualisation und an die Kraft des Kampfgeistes. Ein Lebensplan, sinnbildlich dafür Ziele und Träume und Visionen zu haben, empfinde ich als sehr valide.
Venunft. Ist Vernunft hier der Schlüssel? Momentan schaue ich eine Serie über eine Frauenrechtsbewegung an. „Die Telefonistinnen“ – sehr zu empfehlen.
Vernunft lässt aus Träumen Wahrheit werden
Die Telefonistinnen
Die ganze Bewegung basiert darauf, sich mithilfe von Vernunft gegen das Schicksal zu stellen und einen alternativen Traum Wirklichkeit werden zu lassen!
Das erste Anzeichen von Vernunft ist seine Umgebung und sogar sich selbst zu belügen.
Die Telefonistinnen
Lüge um alternative Realitäten zu erschaffen. „Fake it till you make it!“. Denn was ist schon Wahrheit?
Es ist faszinierend zu sehen, wie es revolutionäre Bewegungen schaffen sich gegen eine vorherrschende Wahrheit zu stellen. Wie es der Geist einzelner schafft anders zu denken, als die Große Masse. Wie es Einzelne schaffen, den Mut aufzubringen für eine Ungewissheit zu kämpfen. Und wie sie ihren Träumen und Werten treu bleiben und dafür sehr vieles in Kauf nehmen.
Ich habe es oft als Last angesehen mich andauernd in alternative Realitäten reinversetzen zu können. Ich habe es als ein „Nichtverbundensein“ mit der Wirklichkeit wahrgenommen. Nicht in direkter Reaktion zu deiner Umgebung zu stehen, macht dich eben zu einem „vernünftigen“ Menschen! Das wollte ich oft nicht sein. Die Welt der Gefühle, der Empfindsamkeit, der Sehnsucht und der Triebe ist nämlich eine sehr reizvolle (siehe Sturm und Drang). Bei meinem akuellen Theaterstück wollte ich unbedingt eine Frau spielen, die voll in dieser Welt der Empfindungen lebt, um es noch besser zu beherrschen. Ich bekam aber von meinem Lehrer genau die Rolle, die ich auf gar keinen Fall spielen wollte. Und sie lehrt mich vieles! Wer Vernunft beherrscht, kann bis zu einem gewissen Grad sehr wohl Schicksal spielen. Hat Macht Lebensumstände und Sitautionen nach Belieben zu verändern. Kann strategisch agieren, was in Überdosierung zu Manipulation wird.
Wie in allen Themengebieten merke ich, am gesündesten und harmonischten ist eine gute Mischung dieser zwei Welten. Der Vernunft. Und der Empfindungen.
Mich reizen Extreme. Auf der einen Seite würde ich gerne super groß träumen und einfach alles für diesen Traum geben. Auf der anderen Seite würde ich gerne komplett mich der Gegenwart hingeben und nur noch Augen für Liebe, Beziehungen und die Schönheit des Lebens haben. Sehr widersprüchlich.
Ich habe (noch) keinen Lebensplan. Ich habe ein paar Stecknadeln auf der Karte des Lebens. Stecknadeln wie auf meiner großen Weltkarte mit Orten, von denen man träumen kann. Auf den unterschiedlichsten Kontinenten. Ich denke auch der Prozess des Stecknadelsteckens ist ein sehr wichtiger im Leben. Es gibt eben nicht nur eine Reiseroute, die befahrbar wäre. Sondern hundermillionen. Finde sich da mal einer zurecht. Ein Lebensplan würde es schon vereinfachen. Aber für den braucht es ja ersteinmal die nötigen Informationen. Die es zu sammeln gilt, oder etwa nicht? „immer schwankend zwischen unsichern Wünschen“ – Ja Kleist, manchmal fühle ich mich so. Aber ich habe ein gesundes Vertrauen darauf, dass ich im richtigen Moment meine Entscheidung fälle. Und mir meine Flexibilität in diesem Willen bis zu einem gewissen Grad vielleicht einfach zugestehe, auch wenn der Erfolgstrieb dadurch geschwächt ist. Denn auf wessen Kosten ist ein starrer Lebensplan? Auf Kosten der Liebe?
Realitätenspieler. So nenne ich eine vernünftige Person. Fähig wie ein Prophet verschiedene Zukünfte (in diesem Fall gibt es nunmal ein Plural – sorry deutsche Grammatik) zu imaginieren. Sich selbst die beste heraussuchen und zu bespielen.
Lohnt es sich auf diese Fähigkeit zu setzen und sie sich zunutzen zu machen?
Oder ab in die Welt der Empfindsamkeiten? Als Spielball des Lebens?
Nun Kleist, wir werden sehen, was ich noch so aus deinem längst gestorbenen Hirn herausbekomme!
Sabine
Geschöpf nicht mehr
Geschöpf nicht mehr, Gebieter der Gedanken,
des Willens Herr, nicht mehr in Willens Frone,
der flutenden Empfindung Maß und Meister,
zu tief, um an Verneinung zu erkranken,
zu frei, als daß Verstocktheit in ihm wohne:
So bindet sich ein Mensch ans Reich der Geister:
So findet er den Pfad zum Thron der Throne.
Christian Morgenstern lassen wir jetzt mal auf Kleist und Anke los – vielleicht ist ja gut, zu denken, zu fühlen und zu wollen, aber jeweils nicht Spielball der Gedanken, Gefühle und des Wollens zu sein…
Ich finde, „der flutendenden Empfindung Maß und Meister“ zu sein schon erstrebenswert. Aber ich bin auch über 50…
Immerhin, wenn ich geflutet werde, sage ich mir neuerdings diese Zeilen auf um wieder Herr der Lage zu werden. Oder Herrin.
Liebe Grüße!